Durchatmen

Christoph Schlingensiefs Buch kommt daher wie eine Naturgewalt. Seine Gedanken, seine Schilderungen, seine Ängste und Hoffnungen reissen dich mit in eine Welt, wo die Zeit stehen bleibt. Legst du das Buch aus der Hand, atmest du einmal tief durch… – Nein, es ist nicht leicht, die treffenden Worte zu finden.

Lies das Buch, und es wird auch dich tiefer atmen lassen. Versprochen. So ein wichtiges grossartiges Buch. Über das Leben und die Angst vor dem Sterben, die Höhen und Tiefen der Schulmedizin und die Schwierigkeit des menschlichen Umgangs in Krisenzeiten. Und wie wichtig es ist, wenn Menschen ihre Angst  und ihre Verletzlichkeit teilen. Christoph Schlingensief hat seine Erfahrungen exzessiv geteilt, und du kommst ihm beim Lesen nahe, als wäre er ein alter lieber Freund.

Bereits die Anregungen des Vorworts treffen ins Volle:

„So viele kranke Menschen leben einsam und zurückgezogen, trauen sich nicht mehr vor die Tür und haben Angst, über ihre Ängste zu sprechen. Ich habe erlebt, wie wichtig es ist, den Geschockten und aus der Bahn Geworfenen zurück ins Leben zu begleiten, ihn in seiner Autonomie als Erkrankter zu stärken, sich zu bemühen, seine Zweifel zu verstehen, ihm zu helfen, seine Ängste auszusprechen und diese – in welcher Form auch immer – zu modellieren. ….   wenn Sie gesund sein sollten, aber einen Erkrankten in Ihrer Familie oder Ihrem Bekanntenkreis haben, dann kümmern Sie sich um ihn, auch wenn Sie Angst haben, dass es Ihnen zu schwer wird.“

Nach dem Buch, das das Jahr von der Krebsdiagnose  bis zum ersten Rückfall schildert, wollte ich wissen, wie es weiterging. In den Weiten des Internet wurde ich sehr schnell fündig. Ausgangspunkt und Kristallisation ist die Website  www.schlingensief.com, wo du Tage verbringen kannst, die Unmenge an spannendem Material zu sichten.

Dort fand ich etwa  Schlingenblog, wo u.a. der folgende Satz zu finden ist:

„glaubt immer an eine zukunft und pflegt das normale ! – Das Normale ist das höchste was uns geschenkt wurde oder von den eltern beigebracht wurde. nutzt das ! ich kann es immer noch nicht.“

Aber hinweisen kann er darauf. Und er kann noch mehr.  Auf seiner Website „Geschockte Patienten“ vertritt “ Dr. Schlingensief“  folgendes Anliegen:

„Dr. Schlingensief liefert in der neuen Rubrik seine neuesten und dringlichsten Gedanken zu Krebs, Angst und zum Patientendasein. Er berichtet aus der eigenen Krankenakte, erzählt was ihm geholfen, was ihm weniger geholfen hat und sucht dabei nach der Autonomie des Patienten. Schauen Sie rein, kommentieren Sie und wenn Sie anderer oder doch der gleichen Meinung sind, starten Sie Ihren eigenen Dialog!“

In der Rubrik „Krank und Autonom“ kannst du einen Kurzfilm ansehen, in dem Schlingensief in Linz öffentlich über seine Diagnose und seine Krankheit  spricht. Da bekommst du einen Eindruck von seiner Kraft. So ein lebendiger, engagierter Mensch.

Als Künstler hat Schlingensief seine Krankheit intensiv aufgearbeitet. U.a. heisst es dazu in seiner Biografie:

Seine Themen kreisen beständig um die Frage nach Gott, der Erlösung und dem Sinn aller Kunst. Die Verschiebung seiner Bilder und Gedanken durch seine Krebserkrankung bearbeitete er offensiv in seiner Inszenierung Der Zwischenstand der Dinge am Maxim-Gorki-Theater (2008), seinem 2009 im Rahmen der Ruhrtriennale uraufgeführtem Fluxusoratorium Kirche der Angst vor dem Fremden in mir, der ReadyMade-Oper Mea Culpa am Wiener Burgtheater und zuletzt in Koproduktion mit dem Züricher Neumarkttheater und dem Schauspielhaus Zürich mit Sterben lernen – Herr Andersen stirbt in 60 Minuten.“

Christoph Schlingensief starb im August 2010, nicht ohne sein letztes ambitoniertes Projekt, eine Art Festspielhaus in Burkina Faso, gestartet zu haben. Seine Frau Aino Laberenz – auch sie eine beeindruckene Persönlichkeit –  führt dieses Projekt mit grossem Engagement fort. Im Oktober 2011 wurde bereits die Schule eröffnet:  www.operndorf-afrika.com

Unglaublich, was ein einziger Mensch alles bewegen kann. Ich ziehe meinen Hut. Lieber Christoph Schlingensief, ich wünsche dir, dass es im Himmel genauso schön ist.

sorry, falls das kitschig klingt. Manchmal schaffen es die Worte einfach nicht. Soll eineR deshalb darauf verzichten? Nein. Bemühen wir uns dennoch, uns mitzuteilen. Das kann eineR aus dem Werk Schlingensiefs lernen.

Dank auch an Ingrid, die mir das Buch geborgt hat! Bücher wie diese sollten tatsächlich ständig im Umlauf sein.

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