Meine Hochachtung für Mignon, mein Mitgefühl für George

Durch Zufall – aber was ist schon Zufall? – hab ich vor kurzem dieses besondere Buch in die Hände bekommen:

Elisabeth Fraller, George Langnas (Hrsg.)
Mignon
Tagebücher und Briefe einer jüdischen Krankenschwester in Wien 1938-1949

Allein die persönlichen Vor- und Nachworte berühren dich, doch das ist nichts gegen die direkte Erfahrung in die vergangene Welt dieser Frau einzutauchen. Sobald du in Mignons Briefe und Tagebuchaufzeichnungen hineinliest, binden dich die Worte zurück in den Alltag einer der schrecklichsten UnmenschlichkeitsPhasen des letzten Jahrhundert. Gleichzeitig bewegst du dich an derart vertrauten Orten wie den Gassen und Strassen im 2. Wiener Bezirk. Es ist so nah und so weit weg zugleich, so unvorstellbar und doch so wahr.

Es ist erstaunlich, wie diese mutige Frau ihre Erfahrungen beschreibt und wie sie Mensch bleibt, obwohl eine ihr nicht verdenken könnte, würde sie das ihr eigene Mitgefühl und differenzierte Denken aufgeben. Mignon verbrachte die Nazizeit in Wien in einem jüdischen Krankenhaus – auch dass und warum es ein solches gab, ist ein Hinsehen Wert. Ihr Ehemann und ihre Kinder – Sohn George mit 4 und Tochter Manuela mit 6 Jahren konnten rechtzeitig vor 1939 in die USA fliehen. Mignon blieb in Wien, um ihre betagten Eltern nicht alleine zu lassen. Wie durch ein Wunder überlebt sie die Nazizeit und die Bombardierungen der letzten Kriegstage und reist 1946 ihrer Familie in die USA nach. Wo sie allerdings bereits nach 4 Jahren stirbt.

Ihr Sohn George Langnas verliert seine Mutter zum ersten Mal mit 4 Jahren, sieht sie nach 7 Jahren wieder und verliert sie ein zweites Mal im Alter von 14.  Erst als Erwachsener erhält er die Briefe und Tagebücher seiner Mutter und kann sie nicht lesen, weil er kein Deutsch versteht. In seinem Vorwort schreibt er, seine Eltern und Verwandten hätten über die Vergangenheit nur geschwiegen. Das Schweigen war unerträglich.

Mit mehr als 60 Jahren schon ein reifer Mann beauftragt er die Österreicherin Elisabeth Fraller, das Material seiner Mutter aufzuarbeiten. Elisabeth vertieft sich 3 Jahre lang in die Arbeit, macht das Projekt ganz zu ihrem, findet weitere verschollene Briefe, interviewt ZeitzeugInnen und kombiniert Fotos und Texte in sorgfältigster Art und Weise zu einem grossen Werk. 2010 kommt das Buch im Studienverlag heraus. Hier findest du die genaue Beschreibung.

In weiterer Folge wird in einer gekürzten Version ein Taschenbuch entstehen, das u.a. für den Unterricht an Schulen eingesetzt werden soll. Wie gut. Wie wichtig.

Wie mich einerseits die Lebensgeschichte dieser Frau berührt, so bewegt mich auch die ungeschriebene Lebensgeschichte ihres Sohnes Georges. Wie muss es sein, mit 4 Jahren aus dem vertrauten Umfeld und von deiner Mutter getrennt zu werden?, wie wird einer 8, 10, 12 Jahre mit dieser Geschichte? Wie sieht das Wiedersehen aus mit einer fremd gewordenen Mutter, die nach all diesen furchtbaren Erfahrungen und fremd geworden wieder bei dir ist? Und kaum hattest du die Chance, sie kennen zu lernen, wird sie krank und stirbt. Keine Geschichte zu ihrem Schicksal, keine Erinnerungen an ihre Zeit und erst so viel später die Briefe und Tagebücher… 

Was wir als Stück Zeitgeschichte aufnehmen, ist für George Biografie, ist die Geschichte seiner Kindheit und all des Ungewissen. Was muss das für ihn bedeuten – der Blick auf das vielleicht unverständliche Leben seiner Mutter in einer fremden Stadt, in einer unbekannten Kultur, in einer unverständlichen Sprache?
Ich wünsche George, dass er mit diesem Projekt einige seiner Wurzeln finden konnte und Frieden in den Antworten auf viele seiner Fragen.

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