Liebe Frau Raimann – ein langer letzter Brief

Liebe Frau Raimann

Ich brauche Ihren Namen nicht zu verändern, um Ihre Anonymität zu wahren. Anonymität spielt keine Rolle mehr für Sie, und es gibt auch keine Angehörigen, die sich irritiert zeigen könnten, dass ich Ihnen derart öffentlich schreibe. Sie waren das letzte Kind Ihrer Familie.

Was will ich Ihnen sagen? Dass es mir leid tut, dass unsere Freundschaft zu Ende gegangen ist. War es überhaupt Freundschaft, oder soll ich eher von Bekanntschaft sprechen? 6 Jahre lang habe ich Sie fast jeden Dienstag zwischen 4 und 6 Uhr  besucht. Wenn kein Feiertag  oder ich nicht auf Urlaub war, haben wir uns jede Woche in zuverlässiger Regelmässigkeit für 2 Stunden gesehen. Nicht einmal meine besten Freundinnen treffe ich sooft. 6 Jahre lang. 6 Jahre sind eine lange Zeit.

Ich kann mich noch gut erinnern, als Aina uns einander vorstellte. Aina brachte mich zu Ihnen in Ihr Appartment in den 6. Stock und da sass ich dann  Ihnen visavis an ihrem Tisch.  Ich sah eine ältere Dame, etwas rundlich mit weissem gut frisiertem Haar,  höflich und zurückhaltend, distanziert und mit guten Marnieren. Höflich und distanziert war ich auch gerne bei neuen Bekanntschaften, und Sie gefielen mir. Die Bilder in meinem Kopf zeigten uns weiterhin derart an Ihrer geblümten Tischdecke sitzen, freundlich und interessiert plaudernd. Auch sie akzeptierten mich nach dem ersten Besuch, und so begann unsere Zeit des Kennenlernens.

Sie waren gut zu Fuß, und Sie waren im 5. Bezirk aufgewachsen. Wir sassen nicht oft an Ihrem Tisch in dieser Zeit, sondern waren sehr viel unterwegs. Einkaufen, am Margartenplatz Eis essen, Rezepte in der Apotheke einlösen, auf der Bank Überweisungen aufgeben, zur Post Briefe aufgeben…

Kam ich zu spät, warteten Sie schon und verbargen Ihre Ungeduld meisterlich. Sprach ich von meiner stressvollen Arbeit, sagten Sie: „Ach ja, Stress haben heute alle.“  und damit waren meine Klagen vom Tisch gewischt.  „Es ist wichtig, Arbeit zu haben“ war eine Ihrer Lieblingsaussagen. Dass die Arbeit auch noch gefallen sollte, hielten Sie für Anmaßung. War ich bei Ihnen, vergaß ich die Mühen des Berufsalltags meist sehr schnell, und dafür danke ich Ihnen noch heute.

So gingen wir Dienstag nachmittags ineinander eingehängt durch die Straßen, und ich weiss noch, wie gut es mir gefiel, dass wir so langsam waren unter all den hektischen Passanten. Und wir erwarteten Rücksicht: Lieber Autofahrer, jetzt musst du etwas länger warten, wir sind nicht mehr ganz so schnell. Das funktionierte überraschend gut, sodass wir uns kaum empören mußten. Die meisten Menschen nahmen geduldig Rücksicht, und wir fingen auch öfter freundliche Blicke auf, wie wir da – gemeinsam jung und alt – die verschiedenen Gassen des Bezirks gemütlich bewanderten. Sie zeigten mir die alte Kirche und das Kloster, indem die Nonnen für Jahrzehnte in völliger Zurückgezogenheit gelebt hatten – jetzt gab es nur noch wenige von ihnen, sehr alt und gebrechlich, aber immer noch aktiv. Sie selbst waren immer zur Kirche gegangen, aber in letzter Zeit war Ihnen der Weg in die Schönbrunnerstraße zu beschwerlich geworden und so hörten Sie die Sonntagsmesse nur noch im Radio.

Sie zeigten mir, wo Sie in der Grüngasse gewohnt hatten bis Sie sich nach einem Spitalsaufenthalt entschlossen hatten, ins Pensionistenheim zu übersiedeln. Wie Sie so vieles zurücklassen mussten und wie schwierig es war, sich auf das Nötigste zu reduzieren. Kein Küchengeschirr mehr, nur noch ganz wenige Bücher, ein Minimum an Bettwäsche und Kleidung.

Wie lange hatten Sie in dieser Wohnung gewohnt? 50 Jahre? Sie wurden 1922 geboren und wuchsen im 3. Bezirk am Donaukanal auf. Sie waren ein Einzelkind und wurden von Ihren Eltern nach Strich und Faden verwöhnt. In der bitteren Zwischenkriegszeit, als der Vater die Familie nur von Gelegenheitsjobs ernährte und die Mutter putzen gehen mußte, brachte er Ihnen – seiner Prinzessin – Bananen mit nach Hause. Sie sprachen sehr liebevoll von Ihrem Vater, der viel zu früh, an den Folgen einer Lungenkrankheit gestorben war. Er selbst und auch Ihre Mutter waren unter grossen Entbehrungen im alten Wien aufgewachsen. Beide entstammten kinderreichen, relativ wohlhabenden Familien mit bitterstrengen Vätern, die den Reichtum verloren oder durchgebracht hatten und den Kindern nichts hinterlassen hatten. Wie schön, dass sie selbst ihre einzige Tochter so voller Liebe großgezogen haben!

Dass ich Ihr Leben so erzählen kann, ist nicht selbstverständlich. Sie hielten sich eher bedeckt mit persönlichen Erzählungen. Das Puzzle setzte sich erst nach und nach im Laufe der Jahre zusammen. Vieles werde ich nicht mehr erfahren. Sie haben in der Grüngasse mit Ihrer Mutter zusammengelebt. Sie waren immer berufstätig gewesen, und kurz bevor Sie in Pension gingen, starb Ihre Mutter. Ausgerechnet jetzt, wo Sie mehr Zeit für Sie gehabt hätten! Ihre Mutter war sehr oft krank gewesen und war im Alter auch fast taub. Ein Grund für Sie, keinen Fernseher anzuschaffen. Ihre Mutter hätte ohnehin nichts verstanden. Ihre Mutter lebte sehr zurückgezogen und Sie mit ihr. Sie gingen tagsüber Ihrer Arbeit nach und abends wartete die Mutter daheim. Was Sie beide die ganze Zeit gemacht hätten? Nun, den Haushalt geführt und gegessen, in guten Zeiten Spaziergänge, Patiencen gelegt, gelesen, nichts Besonderes. Ein ruhiges Leben.

Die ersten Jahre Ihrer Pension müssen auch anders gewesen sein. Sie waren viel auf Reisen mit der Gruppe Ihrer Pfarre, und kamen viel herum. In Ihrer knappen Art erwähnten Sie Reisen nach Israel und auf die Kanarischen Inseln, von Frankreich und von Deutschland, das Sie mit Flugzeug und Bus bereist hatten. Schön war es, und Sie hätten alle Sehenswürdigkeiten gesehen. Mehr gäbe es nicht davon zu erzählen. Einmal im Jahr machten Sie einigen Freundinnen Urlaub in Gansbach, einer kleinen Pension, wo die Wirtsleute die älteren Gäste aufnahmen wie zur Familie zugehörig. Aber dort gäbe es viele Stiegen und Treppen, für gebrechliche Menschen leider kein Urlaubsort mehr.

Öfter erwähnten Sie den Umstand, dass Sie nun schon länger in Pension wären, als berufstätig gewesen. Nie hätten Sie gedacht, so alt zu werden.

Ob Sie nie einen Partner hatten, fragte ich Sie. Nein war die Antwort. Ob Sie nie verliebt gewesen wären? Auch das verneinten Sie. Aber geglaubt habe ich das nicht. Vielleicht gab es Dinge in Ihrem Leben, über die Sie nicht sprechen wollten. Vielleicht haben Sie Frauen geliebt, was in Ihrer Jugend unmöglich war. Vielleicht haben Kriegserlebnisse Sie derart beeinflußt, sodass keine Liebe mehr für Sie möglich wurde. Vielleicht aber waren Sie einfach durch die pflichtbewußte Betreuung Ihrer Mutter nicht an einer Partnerschaft interessiert.

Trotzdem Sie keine eigene Familie gründeten, waren Sie Expertin für geschlechtsspzezifische Arbeitsteilung. Das hat uns öfter zu ziemlich kontroversen Diskussionen geführt. Ob mein Mann sich denn nicht vernachlässigt fühle, wenn ich 3 Wochen auf Seminar führe. Wer ihm denn in dieser Zeit koche? Ob er nicht einsam sei? Sie waren sehr um meinen Partner besorgt und sehr streng mit den Frauen, die Kinder und Ehemann nicht an erste Stelle in ihrem Leben setzten. Das waren die Ansichten Ihrer Generation, und ich haben Ihnen da die neuen Sichtweisen meiner Generation präsentiert. Sie haben sie schliesslich gutmütig akzeptiert. Doch Familie war ein grosser Wert für Sie, auch die meine.  Zum Abschied gab es jeweils „schöne Grüsse an den Gatten“, und ich nahm das Spiel auf mit der Vermittlung von Gegengrüßen, wenn wir einander wiedersahen. Sie und Gerhard waren sehr lebhafte Grüßeschicker und ich freue mich, dass Sie Gerhard bei einem einzigen aber sehr netten Besuch auch einmal persönlich kennenlernen konnten.

wird nicht mehr fortgesetzt…

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