Was ist das – ein Retreat?

Langsam ist es an der Zeit, sich zu outen. Die ersten Jahre habe ich gar nicht darüber gesprochen. Langsam beginne ich, davon zu erzählen.

Während andere Menschen jedes Jahr auf  Urlaub ans Meer oder in die Berge fahren, mache ich etwas ganz Absonderliches.

Ich fahre auf Retreat. Was ist das denn? Wenn ich sage, das ist ein Meditations- oder Schweigeseminar, dann ist das Erstaunen schon mal gross. Was, du redest dort nicht? Kein Wort? Eine Woche lang? 10 Tage? 3 Wochen? Keinen Satz? Beim Essen und in den Pausen auch nicht?

Doch eigenlich geht es gar nicht um das Nicht-Reden. Es geht mehr um ein Reize-Fasten generell. Die Aussenwelt auf ein Minimum zurückdrehen. Du hast einen fixen Tagesplan, du bekommst pünktlich gutes Essen, du hörst nicht viel, ausser täglich einen Vortrag oder eine Meditationsanleitung. Du siehst kein Fernsehen, liest keine Zeitung, du gehst bloss mal mittags oder abends eine Runde in den Wald. Kein Verkehr, keine Menschenansammlungen, keine Stadt, kein Wirbel, kein Trubel. Einfach so. Nur du und eine Gruppe Gleichgesinnter. Wie eben jetzt im Juli 10 Tage lang  eine Gruppe von rund 30 Frauen, alle so sonderbar wie ich.

Wir lassen uns um 5 Uhr wecken (wir machen das alle freiwillig und ohne Zwang…- und manchmal lasse ich mich auch länger schlafen), und setzen uns um 5:30 zum ersten Mal auf eine Stunde zur Sitzmediation in einen schönen Raum mit Gewölbe und schummrigem Licht. Du setzt dich auf ein Kissen oder einen Sessel, schlingst eine warme Decke um dich herum und versinkst in dein Inneres. Du machst dein Anfangsritual: Durch den Körper gehen, ein paar liebevolle Sätze, um den Geist freundlich zu stimmen und dann mit der Aufmerksamkeit zum Atem gehen. Es dauert nicht lang und du bist in Gedanken, Gefühle oder Empfindungen verwickelt. Das kennst du schon, und es überrascht dich nicht mehr.  Du bemerkst es, machst dir ein paar innerliche Anmerkungen dazu (Gedanken an Zukunft, Schmerz im Knie, Geräusch…) und kehrst zum Atem zurück. Du möchtest deinen Atem kennenlernen, von Anfang bis zum Schluss, von Atemzug zu Atemzug. Wird die Ablenkung, die eigentlich die Normalität ist, stärker als erträglich, so versuchst du, sie kennenzulernen. Am einfachsten geht das, indem du den Empfindungen folgst: Wie spürt sich das an, wie ist die Reaktion, wo im Körper und was genau spielt sich ab…

Du bist dabei, Achtsamkeit zu trainieren, wie einen Muskel. Das braucht in erster Linie Übung und Geduld. Und anfangs auch Frustrationstoleranz. Denn mit der berühmten Selbstkontrolle ist es nicht weit her, mit unserem Kontrollwunsch allerdings schon. Manchmal gehst du auch ins Drama, ist das Erleben stärker als die Beobachterin. Aber danach wachst du wieder auf in den Prozess. Es verändert sich alles, ständig. Das kannst du hier gut beobachten in dieser Laborsituation – mit dir selbst als Versuchsperson.

Nach einer Stunde stehst du auf und gehst hinaus in den Morgen auf 45 Minuten Gehmeditation. Du suchst dir eine Strecke von 10 bis 15 Metern und stellst dich hin. Du fasst den Beschluss, diesen kurzen Weg hin und herzugehen und dabei nur auf die Fuss-Sohlen zu achten. Du schaust dir zu, wie der Impuls im Geist entsteht und wie du daraufhin den ersten Schritt machst, und dann den nächsten: Heben, Schweben, Senken… Wie fühlt sich das genau an? Freilich sind auch hier die Ablenkungen die Norm, und so lernst du dich auch bei dieser Übung näher kennen. So ein unruhiger Geist, immer diese Gedanken! Kann ich denn keine Sekunde lang bei der Beobachtung bleiben? So ist es am Anfang. Später schaust du dir dann zu, wie du gewohnheitsmässig auf dieses Denken reagierst, mit Ärger, Ablehnung und Widerstand auf Ungewolltes. Mit Freude, Habenwollen und Weiterhabenwollen auf ein gutes „Ergebnis“.

Überhaupt die Ergebnisfixierung. Alles so mühsam hier, warum tust du dir das an?? Was bringt das eigentlich? Wäre es nicht viel schöner am Meer oder in den Bergen??

Der Tagesplan geht weiter mit weiteren 45 Minuten Sitzen, mit Frühstück (Essen beim Essen – wie hebt sich der Löffel zum Mund, bist du noch da beim Ende des Bissens?), mit einer Stunde achtsamem  Badputzen oder GemüseSchnipseln, mit Sitzen, Gehen, Sitzen.. Einer Stunde Vortrag über das, was du den ganzen Tag an dir beobachtest, z.B. welche Blockaden im Geist auftauchen, die das Ruhig sein verhindern und wie du am besten damit umgehst, mit Ablehnung, HabenWollen, Unruhe, Trägheit und destruktivem Zweifel… Du bekommst wertvolle Information und Anstösse. Die Lehrerin – du hast lange gesucht, sie zu finden – ist so lustig und weise und selbst so ein gutes Vorbild. Wie souverän sie mit allem umgeht! Wie gelassen sie auf Schwierigkeiten reagiert! Wie weise sie von sich erzählt und auch ihre Schatten nicht verschweigt!

Nach dem Mittagessen falle ich die ersten Tage ins Bett und schlafe wie ein Stein. Ich bin das frühe Aufstehen nicht gewöhnt. Danach gehts weiter mit Gehen, Sitzen, Gehen, Sitzen bis zum frühen Abendessen um 18:00. Da laufe ich dann meistens in den Wald und merke, wie sich langsam die Wahrnehmung schärft. Wie klar ich die Bilder sehe, wie gut alles riecht, oder aber  ich beobachte weiter, wie ich in Gedanken verloren gehe, wie ich Erinnerungen nachhänge oder mich von nie eintretenden Szenarien  ängstigen lasse. Bemerke ich überhaupt, wo ich bin? Bin ich überhaupt auf dieser Lichtung, oder hunderte Kilometer entfernt?

Danach gibts noch die Abendeinheit bis 21:00 – Gehen, Sitzen, Gehen und das Beantworten von Fragen, die eine tagsüber auf einen Zettel schreiben kann. Die Lehrerin geht auf alle Fragen, so seltsam sie auch sind, genau ein und du bekommst einen Eindruck davon, was die anderen Frauen interessiert. Sicher hast du trotz nicht-Sprechens viel Kontakt. Da ein Blick, dort eine Geste, da eine Freude, da ein Ärger. Keine Angst, die Projektionen lassen dich nicht im Ungewissen, mit wem du es hier zu tun hast. Das allein ist eine Studie Wert: Wie wir uns Meinungen bilden von unseren Mitmenschen. Peinlich mitunter, wenn eine sich nach ein paar Tagen der Praxis beim Denken zuhören kann. Echt peinlich. Gleichzeitig die Einsicht, wie wir Realität konstruieren. Du warst dir so sicher, dass diese eine Frau Schauspielerin ist und wusstest genau, wie sie tickt! Als du am Abschluss des Seminars mit ihr sprichst, löst sich dein ganzes sicheres Wissen in ein paar Minuten in Seifenblasen auf. Nichts davon ist wahr. Alles reine Konstruktion.

Gut tun da die abendlichen Metta-Übungen, in denen du deinen Geist mit bestimmten Formeln freundlich stimmst. Du wünscht dir selbst das Beste, und dehnst diese Wünsche aus auf FreundInnen, neutrale Personen und im fortgeschrittenen Stadium auf ungeliebte Mitmenschen.. Auch das bestes Beobachtungsmaterial, wie unser Geist funktioniert. Meinem Liebsten wünsche ich von Herzen alles Gute, aber dem verrückten Arbeitskollegen? Sicher nicht!

So lernst du dich selber kennen. Stück für Stück. Mitunter auf Umwegen, mitunter mit erstaunlichen Geistesblitzen und viel Freude und Ruhe. Und da wir ähnlicher sind als verschieden, lernst du mit der Zeit so ganz nebenbei auch, wie deine  Mitmenschen funktionieren. Warum sie manchmal so biestig schauen und sich in etwas hineinsteigern. Du hast es bei dir selbst schon beobachtet, weisst, wie Wut dich zu einem anderen Menschen macht, wie Recht-haben-wollen den Tunnelblick erzeugt, wie bestimmte (?) Konzepte Leiden verursachen. So ticken wir eben. Wir wollen nur Angenehmes. Unangenehmes wollen wir auf keinen Fall. Unsere Egozentrik dabei ist unglaublich, die Realitätsverengung auch. Mit einem nicht erforschten Geist bist du diesen konditionierten Reaktionen hilflos ausgeliefert.

Nach den 10 Tagen bist du vielleicht durch alle Höhen und Tiefen gegangen, obwohl es im Aussen ganz unspektakulär ausgesehen hat und sich nichts Besonderes ereignet hat. Du bist sehr empfindsam geworden und hast in deiner Wahrnehmungsfähigkeit ungeahnte Tiefenschärfe entwickelt. Du kannst das Jetzt und Hier in einem neuen Ausmaß erleben und wirst öfter mal so echt wach in die Wirklichkeit hinein. Du bist gelassener und vor allem achtsam. Dieses Leben kann sich wirklich verdammt gut anspüren im direkten Kontakt.

Keine Sorge, diese hohe Achtsamkeit verliert sich im Alltag schnell wieder. Wenn du nicht weiter trainierst, bist du bald wieder im alten Fahrwasser. Mit dem Unterschied, dass du den Geschmack kennst…

Zudem ist es eine Reise, bei der du vermutlich nie ankommst. Und wenn du glaubst, du bist dem Gipfel nahe, bist du schon wieder unten im Tal und der nächste Gipfel scheint unerreichbar. Die Reise ist, was zählt. Da, wo du gerade bist.

Jede der rund 30 Frauen wird ihre Geschichte vermutlich anders erzählen, also nimm das nicht als Norm, sondern mehr als Variante des Möglichen. Vielfalt statt Einfachheit.

Ich finde nichts Spannender als diese Selbsterforschung und betreibe sie nun seit fast 9 Jahren. Diese Innenschau hat mein Leben verändert und gibt mir Orientierung wie nichts andere. Es gibt sicher viele Wege, sich zurechtzufinden. Keine Frage. Und ich würde auch gern wieder mal ans Meer fahren oder in die Berge..

Wie wäre es eigentlich mit einem Retreat am Meer?

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