Fachkongress zum Thema Achtsamkeit in Wien – eine ausgiebige Nachlese

Letztes Wochenende (29.6. bis 1.7.2012) war das bisher heisseste dieses Jahres in Wien. Ich habe es größtenteils im (unklimatisierten) Festsaal der Akademie der Wissenschaften verbracht. Es war zum Schmelzen heiss. Doch ich hätte das Wochenende nirgendswo anders verbringen wollen.
Kein Meeresstrand, kein schattiger Garten, kein Liegestuhl hätte mich von diesem Ort weglocken können.

Ausgebucht, trotz Hitze

Und mir ging es wie vielen anderen. Die 300 Plätze der vom Arbor Verlag und MBSR Verband Austria veranstalteten Konferenz waren schon lange ausgebucht, und die umfangreiche Warteliste zeigte die aktuelle Popularität des  Themas Achtsamkeit. MedizinerInnen, PsychotherapeutInnen und andere Interessierte aus aller Welt kamen zusammen, um sich über die neuesten Forschungsergebnisse zu informieren. Sie wurden nicht enttäuscht.
Die Präsentationen waren gehaltvoll, kurzweilig vorgetragen und überaus aufschlussreich. Wenn eine wie ich aufgrund eigener Erfahrung von der Wirksamkeit von Achtsamkeitspraxis überzeugt ist,  konnte sie hier viel Sachwissen und v.a. die wissenschaftliche Bestätigung und Legitimation dafür finden. Das tut freilich gut.

Als „Helferlein“ im Organisationsteam hatte ich zwar alle Hände voll zu tun, konnte dafür aber einige ReferentInnen etwas näher kennenlernen. Auch das eine spannende und bereichernde Erfahrung.

Die Nachlese des arbor Verlags zur Veranstaltung findest du hier:
http://www.arbor-seminare.de/die-achtsamkeitswelle-breitet-sich-aus  Beim Kongress konnte eineR die einzelnen Vorträge auf DVD und CD zudem käuflich bei http://www.auditorium-netzwerk.de/ erwerben. Hier ist eine Programmübersicht, sodass du Namen und Titel der Vorträge im Überblick siehst.

Im folgenden mag ich dir ein paar meiner Eindrücke beschreiben. Eine Art Nachlese, bei der ich die Ereignisse auch für mich nochmals revue passieren lasse…

Die Stars

Jon Kabat-Zinn und Saki Santorelli (beide USA) waren die beiden populärsten Referenten. Schliesslich sind sie die Väter des MBSR Konzepts, das nun bereits 30 Jahre lang in der Medizin angewendet wird, und bspw. mittlerweile als wirksame Methode in der Schmerzbekämpfung gilt. MBSR steht für Mindfulness Based Stress Reduction, ein Konzept, das ich auf dieser Website schon mehrmals erwähnt und genauer beschrieben habe. Die grösste Datensammlung dazu gibt es an der Universität von Massachusetts im Center for Mindfulness.

Wie Jon es in seinem Referat zusammenfasste, hat Achtsamkeit regelrecht seinen Siegeszug angetreten. Die Zahl der Buchtitel mit dem Ausdruck „mindfulness“  steigt exponentiell an und lag 2011 bei etwa 400 Stück jährlich. Achtsamkeit wird in zunehmenden gesellschaftlichen Bereichen als hilfreich angesehen. So hat etwa der Kongressabgeordnete Tim Ryan ein Buch „A Mindful Nation“ verfasst, in welchem er sogar den amerikanischen Spirit mit Achtsamkeit wiederbeleben will. So heisst es im Untertitel:  „How a Simple Practice Can Help Us Reduce Stress, Improve Performance, and Recapture the American Spirit“.
Achtsamkeit als Universalheilmittel? Bei so viel Popularität ist m.E. auch angebracht, mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben und sorgfältig zu prüfen, was diese Entwicklung mit Thema und VertreterInnen macht bzw. weiter machen wird… Vielleicht das Thema einer nächsten Konferenz.

Abgeleitet von MBSR ist mittlerweile auch schon MBCT (Mindfulness Based Cognitive Therapy) eine sehr bekannte Methode. Sie wurde von einem ihrer Begründer Mark Williams (University of Oxford) – einem überaus reizenden Menschen – vorgestellt. Es handelt sich dabei nicht um eine Therapie im engeren Sinn, sondern um eine Prophylaxe für Menschen, die bereits früher an einer Depresson gelitten haben. Mit MBCT wird die Rückfallswahrscheinlichkeit deutlich reduziert. Genaueste Information dazu findest du beim Oxford Mindfulness Centre. Mark hat auch das Buch „Der achtsame Weg durch die Depression“ geschrieben und spricht in einem kleinen Filmbeitrag auf youtube über seine Arbeit. Und Mark ist wirklich so nett, wie er aussieht.

Wunderbar konkret und hilfreich

Noch wenig bekannt ist der Ansatz von Nancy Bardacke:  MBCP – Mindfulness-Based Childbirth and Parenting. (siehe dazu: http://www.mindfulbirthing.org) Doch wird auch diese Annäherung einer achtsamen Geburtsvorbereitung mit Nancys bald erscheinenden Buch populär werden. Zurecht. Nancy hat ein grossartiges Konzept für Eltern entwickelt, das sie in einem Curriculum von 9 Wochen, 8 Wochen vor der Geburt und einer Einheit nach der Geburt, vermittelt. In ihrem Workshop zeigte sie auch gleich, wie Frauen immer eine Spur anders arbeiten als Männer. Da wurde für die 40 TeilnehmerInnen sogleich ein Sesselkreis aufgestellt und danach konnten wir die Kostprobe ihrer konkreten Vermittlung – mit viel Partizipation der BesucherInnen – direkt erleben. Nebenbei: Nancy hält ihre Kurse am liebsten daheim in ihrem Wohnzimmer.

Als Hebamme (im englischen „Midwife“) verfügt Nancy über alles Fachwissen zu Schwangerschaft und Geburt. Sie informierte uns ganz genau über die physiologischen Vorgänge, wie sich die Zellen der Gebärmutter verändern, welche Hormone wann und wie aktiv werden, wieso Schmerzen entstehen und wann welcher Schmerz zu erwarten ist. Eine Entmystifizierung der Geburt sozusagen, die schwangeren Müttern sicher enorm gut tut. Nicht eine diffuse stundenlange Horrorgeschichte, die sie erwartet, sondern tief verstandene Vorgänge, bei denen Schmerz einschätz- und bewältigbar wird.
Die Motivation zur Achtsamkeitspraxis: Nicht nur wird der Schmerz erträglicher, sondern mittels eingeübter Achtsamkeit kann die Gebärende zwischen den Wehen die Wirkung des Hormons „Oxytocin“  voll auskosten. Angeblich eine durchaus lustvolle Erfahrung. Wer hätte das gedacht?
Nancy hat bisher schon rund 70 Kurse gehalten, wobei sie Wert legt, immer auch die Väter miteinzubeziehen. Es sind immer die Paare, die sich auf die Geburt vorbereiten, was der wachsenden Familie sicher gut tut.
Zu Ende ihrer Präsentation im Plenum zeigte sie uns einen Film, in welchem ein Paar über die unterschiedlichen Geburtserlebnisse ihres ersten und – nach dem MBCT Kurs – zweiten Kindes erzählte. Ich habe selten so glückliche Eltern und ein so berührendes Interview gesehen. Wirklich sehr überzeugend.

Wir sind, was (und wie) wir denken…

Besonders gefallen hat mir Rick Hansons Vortrag: „Mindfully Taking in the Good“. Rick ist Neuropsychologe und Autor des Bestsellers „Das Gehirn eines Buddha“ – Untertitel: Die angewandte Neurowissenschaft von Glück, Liebe und Weisheit. Ich freu mich schon, wenn ich die Zeit finde, seine Websites durchzusehen: Seinen Blog: http://www.rickhanson.net/ und die Seite des vom ihm mitbegründeten „Wellspring Institute for Neuroscience and Contemplative Wisdom“: http://www.wisebrain.org.

Sein Ansatz basiert auf Neuroplastizität und zeigt auf, „wie wir unser Gehirn stimulieren und stärken können, um zu erfüllenderen Beziehungen und zu einem stärkeren Gefühl von innerem Vertrauen und Wert zu finden“.

***Diese Herangehensweise gefällt mir, ist es schliesslich genau das, was ich mit meiner WertschätzungsWebsite hier versuche. sic. ***
Rick zeigte uns während der Präsentation ein paar feine Übungen, wie wir positive (Ziel)zustände  im Körper spüren und erinnern können und er endete mit den Worten zu einer hilfreichen Einstellung für unsere Achtsamkeitspraxis: „Keep Going“.

Meditation für SkeptikerInnen

Ulrich Ott von der Uni Gießen sprach über „Neuronale Mechanismen der Achtsamkeit„, und obwohl ich zuvor dachte, keine Gehirnbilder mehr sehen zu wollen, war ich sehr angetan von seinen Erklärungen, Forschungsansätzen und Studienergebnissen. Die Untersuchungen mit MRT (Magnetresonanztomographie)  belegen, dass MBSR AbsolventInnen bzw. Meditierende u.a. mehr graue Substanz im Gehirn ausbilden und v.a. auch im Alter vergleichsweise geistigere Fitness aufweisen. – Das motiviert für die Praxis.

Ott plädierte – und dabei spricht er mir ganz aus dem Herzen – für eine „Interdisziplinäre Forschung mit stärkerem Einbezug der Erste-Person-Perspektive“. Er verwies auf die im Herbst kommende Berliner Konferenz „Wissenschaft und Meditation“ sowie weitere Datensammlungen im Netz wie: http://meditation-wissenschaft.org/ und http://contemplativeresearch.org/. Ist das nicht ein unglaublicher Fundus!

Mehr Info zu Ulrich Otts (angenehmer) Person und Forschung findest du auf seiner Website. Ausserdem hat er das Buch „Meditation für Skeptiker“ verfasst, in welchem er Forschungsergebnisse mit der Anleitung zur Meditationspraxis verbindet.
Bleibt noch zu erwähnen, dass Britta Hölzl (USA), die als Coreferentin des Vortrags angekündigt war und deren Forschung ebenso zitiert wurde, ihr Kommen leider kurzfristig abgesagt hat.

Eine von Ulrich Otts Anregungen habe ich mitgenommen: Hast du schon mal versucht, all deine 10 Zehen zu spüren? Bei der grossen Zehe gelingt das ja ganz gut, aber kannst du auch jede der anderen Zehen einzeln fühlen? – Gelingt es dir? – Ich bin noch am Üben 🙂

Freiburg – ein Zentrum der Achtsamkeitsforschung

2009 hatte ich bereits die Achtsamkeitskonferenz  in Freiburg besucht und kannte daher bereits die bahnbrechende Arbeit der dort ansässigen Uniklinik.

Stefan Schmidt , der Leiter des Forschungsschwerpunkts „Achtsamkeit, Mediation und Neuropyhsiologie“ am Universitätsklinikum Freiburg, sprach überaus kurzweilig zum Thema: „Forschung zu klinischen Aspekten der Achtsamkeit – was wissen wir heute wirklich?“ Neben grundsätzlichen Erklärungen zu Forschungsdesigns und Logik klinischer Studien, gab er eine Übersicht zu Anwendungsfeldern in den Bereichen Schmerz, Krebs, Angst und Depression.

Stefan Schmidt, ein junger sympathischer Mann, lehrt zudem. in einem Masterstudiengang in Komplementärmedizin und hat vor kurzem ein  neues Buch im Springer Verlag  publiziert: Walach, Schmidt, & Jonas: Neuroscience, Consciousness & Spirituality

Neben den Studien, die die unterschiedliche Wirksamkeit von Achtsamkeit belegen, wagte Stefan Schmidt in seinem Vortrag auch den soziologischen Blick: Warum ist Achtsamkeit so  populär? war seine Ausgangsfrage, die er wunderbar schlüssig mit dem Hinweis auf  Überangebot, zunehmende Beschleunigung, Funktionalität und Individualisierung beantwortete. Der Mensch sei einfach für das Ausmass der stattfindenden Veränderung nicht geschaffen. Wir können dem Tiger vielleicht einmal erfolgreich davonlaufen, aber nicht zwei Monate lang..

Witzig sein selbst angestellter Geschwindigkeitsvergleich eines alten und neuen Kinderfilms: „Shaun das Schaf “ ist um den Faktor 22,5 schneller geschnitten als der kleine gemütliche „Michel aus Lönneberga“ unserer Kindertage!!

Achtsamkeit als Selbstregulation der Gesellschaft?

Das von Schmidt zitierte Buch von Hartmut Rosa „Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung“ steht schon auf meiner Leseliste. Rosa beschreibt u.a. die Paradoxie, dass technische Beschleunigung nicht Zeit spare, sondern im Gegenteil immer mehr Zeitdruck erzeuge, dem sich der/die Einzelne nicht entziehen kann. Depression, die Volkskrankheit unserer Moderne, sei als der „pathologische Ausstieg aus der Beschleunigung“ zu sehen.
Die Funktionaliserung würde alle Lebenswelten betreffen (kein Tun mehr ohne Ziel), neue Kommunikationsmedien verdichteten zeitlich und räumlich den Lebensalltag…
Soweit der Befund der gesellschaftlichen Dynamik. Was hat das nun mit Achtsamkeit zu tun?

Die Praxis der Achtsamkeit mit seiner immanenten Entschleunigung, Nicht-Intentionalität und Impulskontrolle ermögliche den Rückzug aus dieser kollektiven Entwicklung. Schmidts These: Die Popularität der Achtsamkeit könne als eine Art Selbstregulation der Gesellschaft gesehen werden.
Allerdings auf individueller Ebene. Was es bräuchte, seien vielmehr kollektive Ansätze, eine kulturelle Verankerung von Achtsamkeit, eine Kultur des Bewusstseins und der Muße.

Ja, diese Ausführungen machen Sinn. Sie haben mir äusserst gut gefallen. Was sagst du dazu?

So, jetzt muss ich langsam zum Ende kommen. Du siehst, wie begeistert ich von der Tagung war, dass ich so gar kein Ende mit meiner Nachlese finde.

Not to forget

Dabei wäre da noch unbedingt Giselher Guttmanns Auftritt zu erwähnen – einem österreichischen Pionier der Bewusstseinsforschung, der bereits vor Jahrzehnten mit Felicitas Goodman Trancezustände erforscht hat.

Auch Andreas Remmels Vortrag war höchst hörenswert: War der Beginn eher grundlegend philosophisch, so ging es im zweiten Teil seiner Ausführungen um die konkrete Anwendung von Achtsamkeit in der Psychomatischen Medizin und Psychotherapie. Das von Andreas Remmel geleitete  Psychosomatische Zentrum Waldviertel liegt ja ganz nah an meinem Wohnort, und ich kann aus eigener Erfahrung bestätigen, dass hier äusserst innovative Wege in Therapie und Heilung begangen werden.

Den Abschluss der Tagung bildete Saki Santorellis Präsentation – oder besser Performance, in der er sich höchst kreativ mit „The Ongoing Formation of MBSR Teachers“ auseinandersetzte. Dafür bekam er u.a. standing ovations von dem bis zuletzt aufmerksamen Publikum.

Sakis letztes Wort war das Zauberwort der Tagung. Es lautete: „Embodiment“.

Was glaubst du wohl, warum?

Wenn du diesen langen Beitrag wirklich bis hierher durchgelesen hast, dann verrate ich dir auch, warum ich als Leitbild dieses Artikels die Smaradgeidechse gewählt habe.

Ich habe mir wenig von den vielen Erörterungen über unser Gehirn gemerkt und will das auch gar nicht. Eines aber will ich mich erinnern: Unser Gehirn besteht aus drei Ebenen, sehr vereinfacht ausgedrückt, dem Menschen-, Säugetier- und Reptiliengehirn. Und diesen innersten Teil des Reptiliengehirns finde ich zur Zeit am faszinierendsten. Ich möchte diese in mir verkörperte Verbindung in die Urzeit des Lebens genauer kennenlernen. Ich denke, dass sich damit vieles entdecken und auch integrieren lässt. Mal sehen.

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