Es ist nicht lange her… Eine Museumsempfehlung
Gestern waren Gerhard und ich im „ersten österreichischen Museum für Alltagsgeschichte“ in Neupölla im Waldviertel. Es existiert schon seit 1997 und schon oft haben wir uns vorgenommen, hinzufahren. Wie gut, dass wir es gestern geschafft haben, unseren Vorsatz umzusetzen.
Gestern, am letzten Öffnungstag in diesem Jahr waren wir also dort. Ich bin noch immer schwer beeindruckt. Wir waren zwei Stunden auf einer Reise in die Vergangenheit. Nicht in irgendeine abstrakte fremde unpersönliche Vergangenheit, sondern in unsere eigene…
So haben unsere Eltern, Grosseltern, Urgrosseltern, Ururgrosseltern… gelebt. Da kommen wir her. Diese Erfahrungen sitzen in unseren Zellen, wir tragen sie in unseren Genen, sie spielen weiter unbewusste Rollen in unserem Denken und Empfinden. Das sind unsere Wurzeln. – Da erklärt sich einiges 🙂
Und es ist nicht lange her… Die Exponate und Berichte in den ersten Räumen liessen mich persönlich noch unberührt. Mit sachlichem Interesse sah ich die Bilder der damaligen Pfarrer und Herrschaften, las ich die Dokumente zur Grundherrschaft, zu Robot und Gerichtsbarkeit.. Ich wusste gar nicht, dass man sich damals gar nicht frei bewegen durfte ohne Erlaubnis der Grundherrn. So brauchten etwa Handwerksgesellen eigens ausgestellte Wanderpässe.
Die religiösen Schriften für den Alltagsgebrauch machten mich schon schaudern. Auf diese Art hat die katholische Kirche sich wieder durchgesetzt nach der Reformation. Menschen protestantischen Glaubens – und das waren im Waldviertel nicht wenige – mussten „sich bekehren“ oder das Land verlassen.
Das ist noch alles weit weg und hat nichts mit mir zu tun, obwohl..
..was haben meine Vorfahren damals gemacht? Haben sie sich für eine Reform der Kirche interessiert, sich dafür gar begeistert? Hatten ihre Brüder oder Schwestern den Mut, für ihren Glauben geradezustehen und sich nicht unterkriegen zu lassen? Hat es die Familie gespalten? Wie würde unser Land aussehen, wäre die Gegenreformation – in dem es in Wahrheit um politische Macht ging – damals anders ausgegangen? … Im weiteren Gang durch die Geschichte dann die politischen Umwälzungen durch Josef, II., den ich gerne kennengelernt hätte. Ob er wirklich so eine politische „Lichtgestalt“ war, wie ich sie in ihm sehe? Was kann ich glauben? Wer hat die Geschichte über ihn verfasst?
Schritt für Schritt geht es durch die Ausstellung und „wird es wärmer“, das heisst vertrauter… Gegenstände tauchen auf, die wir in unserem alten Bauernhaus gefunden haben, als wir es vor 25 Jahren kauften. Die Gerhard, ein Waldviertler Bauernsohn, noch als kleiner Bub in Verwendung sah. Die sein Grossvater, 101 jährig gestorben, noch selbst zusammengezimmert hat.. Der Grad der Selbstversorgung auf einem Bauernhof war wirklich erstaunlich.
Diese Zeit ohne Strom, ohne Erdöl, ohne Plastik, ohne Chemie.. sie ist in Wahrheit nicht lange her.
Was mussten die Menschen damals arbeiten, um ihren Alltag zu organisieren! In der Küche, auf dem Feld, in der Werkstatt… Diese Sätze von der mühsamen Arbeit haben wir oft gehört, das sagt sich so leicht dahin, aber hier nimmt dieses Leben Gestalt an, hier wird es lebendig. Hier kannst du die Kälte des alten Bauernhauses spüren, die Beschwerlichkeit des Lebens be-greifen in den Gegenständen aus dieser Zeit. Hier siehst du die Bilder der Menschen, gezeichnet von der vielen Arbeit, hier liest du die Geschichte der Familie mit 11 Kindern, von denen nicht viele erwachsen wurden. – Säuglingssterblichkeit und Kinderkrankheiten liessen damals keine Familie verschont.
Und dessen nicht genug, galt es die politischen Ereignisse der letzten Jahrhunderte zu durchleben besser zu überleben. Kriege, Gewalt, Unterdrückung, Ungleichheit ..
Dafür bin ich den AusstellungsgestalterInnen unendlich dankbar.. Dass nicht, wie in meiner Schulzeit, ein schwarzes Loch zwischen 1934 und 1955 klafft, sondern auch diese dunkle Zeit anschaulich dokumentiert wird. Die Wurzeln des Antisemitismus waren schon von Seiten der Kirche gut vorbereitet worden. Die Propaganda der Nazis brauchte nur darauf aufzubauen. Ich wusste nicht, das schon auf dem Wahlausweis zur Volksabstimmung am 10.4.1938 der folgende Passus stand: „Wer das Stimmrecht ausübt, trotzdem er vom Stimmrecht ausgeschlossen oder Jude ist oder ihm bekannt ist, dass er von mindestens drei volljüdischen Grosseltern abstammt oder aber als Mischling (mindestens zwei jüdische Grosseltern) mit einer jüdischen Person verheiratet ist, hat diesen Wahlausweis sofort an das Gemeindeamt zurückzusenden und hat von der Wahl fernzubleiben. Andernsfalls setzt er sich schwerer Bestrafung aus.“
Die „Nachtseite der Heimatgeschichte“
Vermutlich haben meine Grosseltern damals für den Anschluss gestimmt. Bei den Familientreffen wurde nie darüber gesprochen. Der eine Grossvater ist im Krieg geblieben. Die anderen haben das Thema ausgelassen, wie die ganze gute österreichische Gesellschaft. Auf diesem Boden stehen wir jetzt. Wen wunderts, dass wir so wenig aus der Geschichte gelernt haben?
So tut es gut, zu sehen, wie es wirklich war. Die Propagandaschriften, die den Menschen die glückliche Zukunft versprochen haben, die Hauptplätze, mit Hackenkreuzfahnen geschmückt, die Soldaten, die Flucht der Besiegten, die Waffen, die russischen Besatzer… Nein, die „Nachtseite der Heimatgeschichte“ wird in diesem Museum nicht ausgelassen.
Kleines Detail am Rande… Gerhard und ich sind vor unserem Museumsbesuch beim nahen Schloss Waldreichs wandern gewesen und dabei an dem verfallenen Dorf Strones vorbeigekommen, das wegen der Einrichtung des Truppenübungsplatzes Allentsteig ab 1938 von den Bewohnern verlassen werden musste. In diesen Mauern, so erfuhren wir im Museum, hat Adolf Hitlers Grossmutter gelebt und war sein Vater geboren worden. Der Vater Alois war unehelich geboren und hatte als Kind noch Schicklgruber geheissen. Wegen einer Erbschaft liess Alois Schicklgruber als fast 40 Jähriger seinen Namen nach seinem Vater „Hiedler“ auf Hitler verändern. Ein Name, der sich in die Weltgeschichte eingebrannt hat.
Schau es dir selbst an
Ich könnte noch vieles dazu schreiben, was mir durch den Kopf geht, welche Bilder geblieben sind, welche Zusammenhänge gewachsen sind, aber vielmehr möchte ich dir empfehlen, dich auf deine eigene Reise zu machen… Dafür ist dieses Musum ein idealer Ort.
Das erste österreichischen Museum für Alltagsgeschichte hat wieder ab 1.Mai 2019, jeden Sonn- und Feiertag nachmittags geöffnet. Bis dahin kannst du dich auf seiner Website (der auch die ersten beiden Bilder für diesen Beitrag entnommern wurden) umsehen: www.poella.at/museum
Ich möchte mich ganz herzlich bei allen, die diesen Ort geschaffen haben und betreuen, bedanken. Ihr könnt wirklich stolz darauf sein!
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PS: Nach dem Schreiben des Beitrags haben wir uns die im Museum erstandene und wirklich gut gemachte DVD angesehen:
JÜDISCHE FAMILIEN IM WALDVIERTEL UND IHR SCHICKSAL mit Dokumentarfilmen und Interviews zur gleichnamigen diesjährigen Sonderausstellung (die Ende September beendet wurde, aber ab Mai 2019 wieder gezeigt wird).
Wie du dir vorstellen kannst, keine leichte Kost. Viele schreckliche, traurige und erschütternde Geschichten. Ich habe mich mit dieser Zeit schon intensiv befasst (u.a. mit www.ravensbrueckerinnen.at), aber es ist nochmals anders, wenn du die Orte kennst, wo die Geschichten passiert sind: Eggenburg, Horn, Gmünd, Neupölla..
Ich kann es immer wieder nicht glauben.. Dass Unrecht so zu Recht werden kann, dass Menschen anderen Menschen solche Dinge antun und so verblendet sein können und sich auch so abwenden können vom Leiden anderer.
Ja, unser Geist birgt alles in sich, Himmel und Abgründe… Darum ist es auch so wichtig, sich um geistige Klarheit und inneren Frieden – als Voraussetzung für äusseren Frieden – zu bemühen. Dann sind wir weniger anfällig für mediale Gehirnwäsche und einfache Lösungen und verlieren nicht unser natürliches Mitgefühl.
So antwortete auch eine der interviewten ZeitzeugInnen auf die Frage, was denn die jüngere Generation machen könne angesichts des vergangenen Schreckens: sich um den Frieden bemühen. Und wir können den Opfern eine Stimme geben, die Dinge benennen und die Wahrheit sichtbar machen. Das ist mit dieser DVD sehr gut gelungen. Danke dafür!